Archiv des Autors: Dr. Rainer Zerbst

Das Einst zum Leben erwecken: Die Kunst der Erinnerung von Julia Weißflog

Zucker, Eier, Butter, Mehl, etwas Vanille – mehr braucht es nicht für die süßen Madeleineküchlein. Durch Marcel Proust fanden sie Eingang in die Weltliteratur, denn ihr Geschmack entführt den Erzähler seines großen Romans Auf der Suche nach der verlorenen Zeit in die Welt seiner Kindheit, und sie sind nicht die einzigen Auslöser für seine Erinnerungen an die Vergangenheit. Auch eine Melodie oder der Anblick von drei Bäumen in Balbec entführen ihn in die „verlorene Zeit“. Bei der jungen Graphikerin Julia Weißflog war es das Haus ihrer Kindheitstage, wie die Ausstellung der diesjährigen Preisträgerin des Holzschnitt-Förderpreises des Freundeskreises des Kunstmuseums Reutlingen zeigt.

Scheinbar Unwichtiges XXV, 2022. Foto: U. Schäfer-Zerbst

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Für Aug und Ohr? Ulrich Rasches szenische Version von Bachs Johannes-Passion an der Oper Stuttgart

Wird eine Passion von Johann Sebastian Bach in der Kirche aufgeführt, wirkt sie anders als im Konzertsaal, was man schon an der Art des Beifalls merkt: In der Kirche nicht selten zunächst verhalten, wenn er nicht völlig ausbleibt, im Konzertsaal je nach Qualität der Aufführung begeistert. Der Applaus nach der Johannes-Passion, wie sie die Oper Stuttgart nun auf die Bühne brachte, war, wie man ihn von eine Opernpremiere her kennt: begeistert, fast frenetisch.

Staatsopernchor Stuttgart. Foto: Matthias Baus

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Rätselhafte Klarheit: Hans Peter Reuter

Es ist das vielleicht schlichteste, zugleich am eindeutigsten identifizierbare geometrische Gebilde: das Quadrat, zu dessen Konstruktion es einer einzigen Angabe bedarf: Seitenlänge oder Diagonale. Im Unterschied zu Rechteck, Raute oder Trapez ist ein Quadrat stets – frei nach Gertrude Stein – ein Quadrat ist ein Quadrat…. Der Maler Hans Peter Reuter hat es seit Jahrzehnten zur Keimzelle seines ganzen bildnerischen Schaffens gemacht – und sein enormes Ausdrucksspektrum trotz der Gleichförmigkeit demonstriert.

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Wiedergelesen: Dreimals „Mrs. Dalloway“: Michael Cunningham: Die Stunden

1925 erschien in London ein Roman, der dieser Gattung ganz neue Dimensionen erschloss. Äußerlich betrachtet geschieht nicht viel: Es geht um die Alltäglichkeiten einer kleinen Personengruppe in London nach dem 1. Weltkrieg. Dem Leser werden diese Äußerlichkeiten aber fast ausschließlich durch die Wahrnehmungen und Gedanken der einzelnen Figuren vermittelt: Die Außenwelt spiegelt sich in der Innenwelt. The Hours wollte Virginia Woolf diesen ihren vierten Roman nennen, Die Stunden, entschied sich dann aber für Mrs. Dalloway. 1998 griff der amerikanische Romancier Michael Cunningham für einen neuen Roman Woolfs ursprünglich geplanten Titel auf: The Hours, Die Stunden.

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Große Kunst in kleiner Stadt: 35 Jahre Städtische Galerie Ochsenhausen

Ochsenhausen hat nur knapp 9000 Einwohner; dass es dennoch Anziehungspunkt für Kulturinteressierte ist, verdankt es letztlich dem Zufall. Der erste war der Sage nach ein Ochse, der beim Pflügen auf einen Schatz stieß, den Nonnen auf der Flucht vor den Hunnen vergraben hatten – Ursprung des Klosters Ochsenhausen, das nicht zuletzt durch den Ehrgeiz seiner Äbte bis zur Reichsabtei mit grandiosen barocken Bauten aufstieg. Dass Ochsenhausen seit Jahrzehnten auch ein Zentrum für Freunde moderner Kunst ist, verdankt es letztlich einer Person und einem Quäntchen Glück.

Kloster Ochsenhausen, Fruchtkasten

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Das Ich und die anderen – Jiří Kyliáns One of a Kind wieder am Stuttgarter Ballett

1998 feierten die Niederlande das 150. Jubiläum ihrer Verfassung und die Regierung bat den damaligen künstlerischen Leiter des Nederlands Dans Theaters, Jiří Kylián, um eine Choreographie zu diesem Anlass. Kylián wählte als Ausgangspunkt einen zentralen Satz dieser Verfassung: Alle, die sich in den Niederlanden aufhalten, werden in gleichen Fällen gleich behandelt.“ Für ihn hieß das, dass jeder für sich unverwechselbar, individuell und als solcher zu akzeptieren ist, und so nannte er sein Ballett One of a Kind – Einzigartig.

Rocio Aleman © Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett

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In jeder Hinsicht offen: Georgia Russells „Schnittkunst“

Ein Bild ist statisch, zweidimensional, kann Räumlichkeit allenfalls durch technische Hilfsmittel wie die Zentralperspektive andeuten. Die Schottin Georgia Russell kennt sich damit aus, sie hat an der Londoner Kunstakademie ihren Abschluss in Druckgraphik absolviert, und sie arbeitet seit rund zwanzig Jahren auch mit Flächen – bemalt oder bedruckt. Die Städtische Galerie Tuttlingen zeigt, dass das Resultat alles andere als flach ist.

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Silber in allen Schattierungen im Museum im Prediger, Schwäbisch Gmünd

Ein goldfarbener, in der Fassade durchbrochener großer Würfel ziert den Eingang von Schwäbisch Gmünd seit der dortigen Landesgartenschau 2014, ein symbolischer Hinweis auf die Bedeutung, die das Gold- und Silberschmiedegewerbe hier hatten. Die Stadt profitiert heute noch davon: Das Städtische Museum geht unter anderem auf eine Initiative des Silberwarenfabrikanten Hermann Bauer zurück. Jetzt ist eine große Ausstellung dem edlen Metall gewidmet: Timeless Silver.

Kreuzreliquiar in Form eines Kalvarienbergs, Ulm, 1440/1450. Foto: U. Schäfer-Zerbst

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Chimären aus Bronze von Karl-Ulrich Nuss

Sie hat den Körper eines Löwen und den Kopf eines Menschen – die Sphinx, das wohl bekannteste Mischwesen, das Tier- und Menschensphäre miteinander verbindet. Umgekehrt war es bei Thot im alten Ägypten: Er hatte den Kopf eines Ibis und den Körper eines Menschen. Dabei sind Mensch und Tier doch so eng miteinander verwandt, dass man eigentlich nicht die Welt der Mythen und Märchen bräuchte. Chimäre nennt man ein Mischwesen aus der griechischen Mythologie, Chimären kennt aber auch unsere Naturwissenschaft, die gebräuchlichste Form entsteht durch Veredlung bei Gehölzen. Der Bildhauer Karl-Ulrich Nuss hat seine eigene Chimärenwelt realisiert. Schließlich ist alles denkbar, es ist nur eine Frage der Fantasie.

Schlechse, 2017. Foto: U. Schäfer-Zerbst

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Ravenna – antike Metropole zwischen West und Ost. Judith Herrins Porträt einer ungewöhnlichen Stadt

Alle Wege führen nach Rom“ – Augustus erklärte damit die Stadt am Tiber zum Zentrum des Imperiums und machte das mit einer vergoldeten Säule 20 n. Chr. deutlich, die katholische Kirche und mit ihr vor allem der Papst Jahrhunderte danach ebenso, und das nicht nur in geistlicher Hinsicht. Die Kehrseite dieser Maxime erlebte die ewige Stadt freilich auch: Immer wieder war sie Ziel feindlicher Anstürme bis hin zu Eroberung und Plünderung. Ganz im Gegensatz zu Ravenna. Die Stadt, in sumpfigem Gelände auf Holzpfählen errichtet, galt als uneinnehmbar – und das machte sie zu einer würdigen Nachfolgerin Roms. Dass sie während dieser Zeit ihre ganz eigene Kultur entwickelte, zeigt die Historikerin Judith Herrin: Ravenna – Hauptstadt des Imperiums, Schmelztiegel der Kulturen.

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