Archiv des Autors: Dr. Rainer Zerbst

Tänzerischer Aufbruch! in die Zukunft: Drei Uraufführungen am Stuttgarter Ballett

Es gibt Daten, die die Welt veränderten: 1518 mit dem Thesenanschlag von Martin Luther beispielsweise oder 1789 mit der Französischen Revolution. Für die deutsche Geschichte war das Jahr 1919 impulsgebend bis in unsere Tage. Die Weimarer Republik wurde gegründet mit ihrer freiheitlichen Verfassung, die u.a. den Frauen das Wahlrecht gab, und gleichfalls in Weimar wurde das Bauhaus aus der Taufe gehoben mit einer Ästhetik, die unseren Alltag immer noch prägt. So gab der Stuttgarter Ballettintendant Tamas Detrich drei Choreographen den Auftrag, sich von diesem Jahr inspirieren zu lassen. Entstanden ist ein Aufbruch!.

Mizuki Amemiya, Diana Ionescu © Stuttgarter Ballett

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Der Roman als Irreführung: Ford Madox Ford: Die allertraurigste Geschichte

Sein Leben liest sich wie eine Erfolgsgeschichte: Dem 1873 geborenen Ford Madox Ford, der eigentlich Ford Hermann Hueffer hieß, schien alles zu gelingen, was er anpackte. Mit neunzehn schrieb er seinen ersten Roman, mit fünfundzwanzig arbeitete er mit Joseph Conrad zusammen an zwei Romanen, er gründete die English Review und förderte Autoren wie D.H. Lawrence, Wyndham Lewis und Ezra Pound, später auch Joyce und Hemingway. Aber nach seinem Tod 1939 geriet er im Gegensatz zu den von ihm Geförderten weitgehend in Vergessenheit. Doch mit einem Roman zumindest hat er sich bleibenden Ruhm verdient, einem Roman, der von Graham Greene immer wieder gelesen und von Ruth Rendell in höchsten Tönen gelobt wurde: Die Allertraurigste Geschichte.

Ford Madox Ford. Die allertraurigste Geschichte. Diogenes Verlag

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Utopia ist erst morgen. Stephan Kimmig deutet Hans Werner Henzes Prinz von Homburg an der Oper Stuttgart

Der preußische König verbot die Aufführung des Dramas, die Romantiker priesen es als Inbegriff des Poetischen – Der Prinz von Homburg von Kleist schied die Geister. Die einen sahen im Titelhelden einen Mann, der die rigide Realität überwindet durch Träumerei und das Vertrauen auf das eigene Ich, Otto von Bismarck sah in ihm einen Schwächling. Für Hans Werner Henze war er wohl das Symbol eines Nonkonformismus, den er nach den Erfahrungen Nazideutschlands, des Weltkriegs und der autoritären Nachkriegsbundesrepublik für sich zum Lebensprinzip erklärte, allerdings nur außerhalb von Deutschland für sich realisieren konnte, in Italien, wie auch Ingeborg Bachmann. Gemeinsam machten sie aus Kleists Drama 1959 eine Oper, gedacht als Gegenmodell zu dem von ihnen abgelehnten Deutschland, das ihnen zu sehr den preußischen Idealen verpflichtet schien. Stephan Kimmig hat sie nun für die Oper Stuttgart inszeniert.

Ensemble. Foto: Wolf Silveri

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Traumgebilde auf Leinwand: Bilder von Mandy Kunze und Mitja Ficko

Marcel Prousts Suche nach der verlorenen Zeit beginnt in einem Zwischenreich, dem Zustand zwischen Schlafen und Wachen, dem Dösen, in dem Traum- und Lebenswelt sich seltsam mischen. Man könnte auch sagen: Marcel Prousts Roman beginnt mit einer Einführung in das Wesen der Kunst, die ja auch mit den Elementen unserer Alltagsrealität arbeitet, aber zugleich Räume schafft, die weit darüber hinausgehen, entweder in Visionen oder in das Innere des Ichs. Diesem seltsamen Schwebezustand kann man in der Städtischen Galerie Villingen-Schwenningen anhand zweier Künstler begegnen, die zwar aus unterschiedlichen Lebenswelten stammen – Deutschland und Slowenien – die auf ihren Bildern aber durchaus ähnliche Grenzsituationen entwerfen.

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Glanz und Elend der Geschwindigkeit: Vollgas im Art.Plus in Donaueschingen

Es gilt als der Deutschen liebstes Kind, das Auto, zumindest der männlichen Geschlechts. Stromliniendesign, Metalliclacke, die Vorstellung rasanter Fahrten, Geschwindigkeiten, die an Blitze denken lassen, dazu kräftig aufheulende Motoren, kurz bevor die Wagen dann losdonnern – es sind Klischees, aber durchaus mit realem Hintergrund, die um das Auto ranken, und die Gefahren, die jeder eingeht, der an einem Autorennen teilnimmt, tragen das Ihre dazu bei, dem Auto den Nimbus des Extraordinären zu verleihen. Dass derlei Reize auch die bildenden Künstler nicht kalt gelassen haben, zeigt eine Ausstellung im Museum Art.Plus in Donaueschingen. Vollgas lautet der Titel. Hauptdarsteller: das Auto.

Stefan Rohrer, Vespa, 2007

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Den Mythos befragen: Leo Dicks Antigone-Tribunal

Es geht um die Frage: der Einzelne oder der Staat, Humanität oder Gesetz, Flexibilität oder Buchstabentreue: Als Sophokles im alten Athen seine Antigone auf die Bühne brachte, traf er mit solchen Fragen ins Herz der athenischen Demokratie, die noch bedroht war von Gegnern wie den mächtigen Persern oder den strengen Spartanern. Aber die Fragen haben bis heute Gültigkeit, weshalb gerade dieses Drama vielleicht vor all den anderen aus dieser Zeit bis heute an Aktualität nichts verloren hat, zumal die konträren Positionen jeweils einiges für sich haben. Der Philosoph Slavoj Žižek hat genau dies in seinem Stück Die drei Leben der Antigone aufgegriffen und sich der weit verbreiteten positiven Deutung der Antigone entgegengesetzt. Jetzt hat Leo Dick im Auftrag der Jungen Oper Stuttgart, die seit ihrem Umzug ins Probenzentrum Nord JOIN heißt (Junge Oper im Nord) daraus eine Oper komponiert.

Chor der Bürger*innen, David Kang (Kreon). Deborah Saffery (Haimon/Tiresias), Carinna Schmieger (Antigone). Foto: Martin Sigmund

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Viele Wege führen zur Oper: das JOIN der Oper Stuttgart

Sie sollte, so stellte es sich der damalige Stuttgarter Opernintendant Klaus Zehelein vor, der „ästhetischen Erziehung“ von Kindern dienen – die Junge Oper Stuttgart: mit Operninszenierungen, die der Vorstellungswelt der Kinder und Jugendlichen entsprachen, mit Märchenspielen und gesellschaftsrelevanten Themenaufbereitungen, stets komponiert und inszeniert für das heranwachsende Publikum und meist unter Beteiligung von Jugendlichen, die mal hinter den Kulissen mitarbeiteten – in der Maske, beim Bühnenaufbau -, mal als Chor auf der Bühne mitwirkten. Unter dem neuen Intendanten Viktor Schoner hat sie einen moderneren Namen bekommen, eine neue Spielstätte und sehr viel mehr Gewicht – das JOIN, die „Junge Oper im Nord“.

Foto: Matthias Baus

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Welt im Spiegel: Molières Menschenfeind am Schauspiel Stuttgart

Dass Theaterfiguren im Lauf der Interpretationsgeschichte neue Facetten erlangen, neu bewertet werden, ist nicht ungewöhnlich. So sehen wir Shakespeares Shylock heute gänzlich anders, als ihn die Zuschauer des 17. Jahrhunderts empfunden haben dürften. Eine der drastischsten Umdeutungen erlebte Molières Menschenfeind Alceste. Dieser radiale Verfechter der Aufrichtigkeit allem und jedem gegenüber ohne Rücksicht auf die Wirkung der Wahrheit dürfte von Molières Zeitgenossen als lächerlich angesehen worden sein in einer Gesellschaft, in der die Form, der gute Geschmack wichtiger waren als Ethik und Moral. Schon Goethe sah in ihm allerdings auch tragische Züge. Jetzt hat Bernadette Sonnenbichler das Rad der Deutungen weitergedreht.

Ensemble. Foto: David Baltzer

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Das Ich und die Gesellschaft: Jiří Kyliáns „Verfassungsballett“ One of a Kind

Da hatte die klassische Kultur offenbar einen hohen Stellenwert. So feierte die niederländische Regierung das 150jährige Jubiläum ihrer Verfassung nicht einfach nur durch Reden, sie wollte etwas Dauerhaftes und beauftragte den Direktor des Nederlands Dans Theater, Jiří Kilián, mit einem Ballett, und der – noch ungewöhnlicher – nahm sich zum Thema den ersten Satz dieser Verfassung: „Alle, die sich in den Niederlanden aufhalten, werden in gleichen Fällen gleich behandelt. Niemand darf wegen seiner religiösen, weltanschaulichen oder politischen Anschauungen, seiner Rasse, seines Geschlechtes oder aus anderen Gründen diskriminiert werden.“ So geschehen 1998: One of a Kind. Jetzt hat das Stuttgarter Ballett diese Choreographie in sein Repertoire aufgenommen.

Miriam Kacerova. Foto: Stuttgarter Ballett

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Brüssel, wie es sein könnte. Robert Menasses Roman Die Hauptstadt

Brauchte Robert Menasse Walter Hallstein in seinem Europaroman? Sicher, würde der Romancier wohl antworten, schließlich plädiere er für ein starkes Europa, in dem die nationalen Grenzen möglichst abgebaut werden sollten, ein nachnationales Europa, und Walter Hallstein, der Präsident der ersten Kommission der 1957 gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, hatte sich für die Entwicklung europäischer Institutionen stark gemacht, und also führte er den Politiker in seinem Roman als Referenzinstanz ein, ohne sich allerdings nennenswert um die historischen Fakten zu kümmern. Über dem darüber entstandenen publizistischen Aufstand geriet sein Roman fast ins Hintertreffen, dabei hätte Menasse sich diesen Ärger sparen können.

Robert Menasse. Die Hauptstadt. Suhrkamp Verlag

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