Archiv des Autors: Dr. Rainer Zerbst

Wiedergelesen: Dreimals „Mrs. Dalloway“: Michael Cunningham: Die Stunden

1925 erschien in London ein Roman, der dieser Gattung ganz neue Dimensionen erschloss. Äußerlich betrachtet geschieht nicht viel: Es geht um die Alltäglichkeiten einer kleinen Personengruppe in London nach dem 1. Weltkrieg. Dem Leser werden diese Äußerlichkeiten aber fast ausschließlich durch die Wahrnehmungen und Gedanken der einzelnen Figuren vermittelt: Die Außenwelt spiegelt sich in der Innenwelt. The Hours wollte Virginia Woolf diesen ihren vierten Roman nennen, Die Stunden, entschied sich dann aber für Mrs. Dalloway. 1998 griff der amerikanische Romancier Michael Cunningham für einen neuen Roman Woolfs ursprünglich geplanten Titel auf: The Hours, Die Stunden.

Weiterlesen

Große Kunst in kleiner Stadt: 35 Jahre Städtische Galerie Ochsenhausen

Ochsenhausen hat nur knapp 9000 Einwohner; dass es dennoch Anziehungspunkt für Kulturinteressierte ist, verdankt es letztlich dem Zufall. Der erste war der Sage nach ein Ochse, der beim Pflügen auf einen Schatz stieß, den Nonnen auf der Flucht vor den Hunnen vergraben hatten – Ursprung des Klosters Ochsenhausen, das nicht zuletzt durch den Ehrgeiz seiner Äbte bis zur Reichsabtei mit grandiosen barocken Bauten aufstieg. Dass Ochsenhausen seit Jahrzehnten auch ein Zentrum für Freunde moderner Kunst ist, verdankt es letztlich einer Person und einem Quäntchen Glück.

Kloster Ochsenhausen, Fruchtkasten

Weiterlesen

Das Ich und die anderen – Jiří Kyliáns One of a Kind wieder am Stuttgarter Ballett

1998 feierten die Niederlande das 150. Jubiläum ihrer Verfassung und die Regierung bat den damaligen künstlerischen Leiter des Nederlands Dans Theaters, Jiří Kylián, um eine Choreographie zu diesem Anlass. Kylián wählte als Ausgangspunkt einen zentralen Satz dieser Verfassung: Alle, die sich in den Niederlanden aufhalten, werden in gleichen Fällen gleich behandelt.“ Für ihn hieß das, dass jeder für sich unverwechselbar, individuell und als solcher zu akzeptieren ist, und so nannte er sein Ballett One of a Kind – Einzigartig.

Rocio Aleman © Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett

Weiterlesen

In jeder Hinsicht offen: Georgia Russells „Schnittkunst“

Ein Bild ist statisch, zweidimensional, kann Räumlichkeit allenfalls durch technische Hilfsmittel wie die Zentralperspektive andeuten. Die Schottin Georgia Russell kennt sich damit aus, sie hat an der Londoner Kunstakademie ihren Abschluss in Druckgraphik absolviert, und sie arbeitet seit rund zwanzig Jahren auch mit Flächen – bemalt oder bedruckt. Die Städtische Galerie Tuttlingen zeigt, dass das Resultat alles andere als flach ist.

Weiterlesen

Silber in allen Schattierungen im Museum im Prediger, Schwäbisch Gmünd

Ein goldfarbener, in der Fassade durchbrochener großer Würfel ziert den Eingang von Schwäbisch Gmünd seit der dortigen Landesgartenschau 2014, ein symbolischer Hinweis auf die Bedeutung, die das Gold- und Silberschmiedegewerbe hier hatten. Die Stadt profitiert heute noch davon: Das Städtische Museum geht unter anderem auf eine Initiative des Silberwarenfabrikanten Hermann Bauer zurück. Jetzt ist eine große Ausstellung dem edlen Metall gewidmet: Timeless Silver.

Kreuzreliquiar in Form eines Kalvarienbergs, Ulm, 1440/1450. Foto: U. Schäfer-Zerbst

Weiterlesen

Chimären aus Bronze von Karl-Ulrich Nuss

Sie hat den Körper eines Löwen und den Kopf eines Menschen – die Sphinx, das wohl bekannteste Mischwesen, das Tier- und Menschensphäre miteinander verbindet. Umgekehrt war es bei Thot im alten Ägypten: Er hatte den Kopf eines Ibis und den Körper eines Menschen. Dabei sind Mensch und Tier doch so eng miteinander verwandt, dass man eigentlich nicht die Welt der Mythen und Märchen bräuchte. Chimäre nennt man ein Mischwesen aus der griechischen Mythologie, Chimären kennt aber auch unsere Naturwissenschaft, die gebräuchlichste Form entsteht durch Veredlung bei Gehölzen. Der Bildhauer Karl-Ulrich Nuss hat seine eigene Chimärenwelt realisiert. Schließlich ist alles denkbar, es ist nur eine Frage der Fantasie.

Schlechse, 2017. Foto: U. Schäfer-Zerbst

Weiterlesen

Ravenna – antike Metropole zwischen West und Ost. Judith Herrins Porträt einer ungewöhnlichen Stadt

Alle Wege führen nach Rom“ – Augustus erklärte damit die Stadt am Tiber zum Zentrum des Imperiums und machte das mit einer vergoldeten Säule 20 n. Chr. deutlich, die katholische Kirche und mit ihr vor allem der Papst Jahrhunderte danach ebenso, und das nicht nur in geistlicher Hinsicht. Die Kehrseite dieser Maxime erlebte die ewige Stadt freilich auch: Immer wieder war sie Ziel feindlicher Anstürme bis hin zu Eroberung und Plünderung. Ganz im Gegensatz zu Ravenna. Die Stadt, in sumpfigem Gelände auf Holzpfählen errichtet, galt als uneinnehmbar – und das machte sie zu einer würdigen Nachfolgerin Roms. Dass sie während dieser Zeit ihre ganz eigene Kultur entwickelte, zeigt die Historikerin Judith Herrin: Ravenna – Hauptstadt des Imperiums, Schmelztiegel der Kulturen.

Weiterlesen

Seiner Zeit voraus: James Ensor im Kunstmuseum Reutlingen

Es sei das schwärzeste Kapitel in der belgischen Kulturpolitik gewesen, als sie zuließ, dass James Ensors riesiges Gemälde Der Einzug Christi in Brüssel außer Landes in den Besitz des Getty-Museums in New York gelangte. Das war 1987, Ensor war da schon zwanzig Jahre tot und längst eine große Figur in der Kunstgeschichte, auch wenn diese sich mit seiner Einordnung schwer tat und ihn mal dem Impressionismus, mal dem Surrealismus, mal der fantastischen Malerei zuschlug. Er selbst sah sich als Maler der Masken, denn sie, die er im Kuriositätenladen seiner Mutter zuhauf erlebte, prägten seine Kunst- wie auch seine Weltsicht.

Der Einzug Christi in Brüssel, 1898, Sammlung Deckers, Ostende, Foto: Steven Decroos

Weiterlesen

Einzeln vereint – Geschwister in der Kunst

In der Psychoanalyse ist es erst relativ spät zum Thema geworden, obwohl es doch den größten Teil der Menschheit betrifft – das Verhältnis von Geschwistern im allgemeinen, von Schwestern und Brüdern im besonderen. Sigmund Freud hat ihm keine seiner zahlreichen Schriften gewidmet, befand aber, es müsse nicht unbedingt ein liebevolles sein, im Gegenteil, und ein Blick in die Bibel hätte ihn bestätigt: Da folgt auf den Sündenfall durch Adam und Eva unter deren Söhnen Kain und Abel der Brudermord. Eine Ausstellung in der Kunsthalle Tübingen spürt dem Wesen von Geschwistern in der Kunst durch die Jahrhunderte nach und beginnt mit der Mythologie.

Weiterlesen

Aspekte des Lebens – Junge Choreographen beim Stuttgarter Ballett

Bei vielen Großen des modernen Balletts liegen die Anfänge in Stuttgart – bei Jiří Kylián, John Neumeier oder Marco Goecke. Das ist freilich kein Zufall, denn in Stuttgart gibt die Noverre-Gesellschaft, die 1958 gegründet wurde, seit 1961 Tänzern Gelegenheit, selbst Choreographien zu kreieren und aufführen zu lassen. Inzwischen wird das unter dem Dach des Stuttgarter Balletts weitergeführt als Noverre:Junge Choreographen. Für diesen Nachwuchs besonders wichtig ist, dass Ballettchef Tamas Detrich inzwischen die Möglichkeit geschaffen hat, das nur dreimal an zwei Tagen aufgeführte Programm eine Woche lang im Internet als Stream verfügbar zu halten – für ein Publikum weltweit!

Nnamdi Christopher Nwagwu. „Abuo“. Tänzer: Riccardo Ferlito, Edoardo Sartori © Roman Novitzky/Stuttgarter Ballett

Weiterlesen